Nicht an Aktualität verloren
Magazin „ZEIT Geschichte“ beschäftigt sich mit
„Jugendbewegung und Lebensreform um 1900“
„Anders leben“ lautet das eine Motto. „Wilder
denken, freier lieben, grüner wohnen“ liest sich das andere Motto. Ja, die
Redaktion des Magazins „ZEIT Geschichte“ hat anlässlich des 100.Jahrestages des
Festes auf dem Hohen Meißner die Gelegenheit genutzt, sich mit der
„Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900“ zu beschäftigen. Es
wäre vermessen zu behaupten, das Ergebnis könne sich sehen lassen. Dafür
bleiben die Texte und Interviews an vielen Stellen zu sehr an der Oberfläche.
Oder anders gesagt, das Bemühen, die Ideen der Jugendbewegung und Lebensreform
vom Auftakt des 20. Jahrhunderts in den ersten Teil des 21. Jahrhunderts zu
übersetzen, scheitert.
Nichtsdestotrotz ist der Blick in die
Vergangenheit nicht sinnlos. Jürgen Overhoff, Historiker an den Universitäten
Hamburg und Münster, schreibt in dem trotz allem abwechslungsreichen Magazin
über die Freikörperkultur. FKK sei der radikalste Ausdruck lebensreformerischer
Zivilisationskritik im Kaiserreich gewesen, stellt Overhoff in seinem Beitrag
„Im Lichtkleid zum Lebensglück“ mit. Mit dem Blick auf die Gegenwart stellt
Overhoff fest: „Heute, in einer Zeit, in der sich sieben Millionen Deutsche im
Sommerurlaub nackt sonnen und in der Nacktrodelevents den launigen Höhepunkt
einer jeden Wintersportsaison darstellen, mutet es fast schon unwirklich und
kaum glaublich an, dass die Nacktkultur hierzulande einst ein mit reformatorischem
Eifer betriebenes Geschäft zur Erlösung der Welt gewesen ist, ein sehr ernstes
dazu. Es ist aber die nackte Wahrheit.“ (54)
Dass die Verbände und Vereine in der
Freikörperkultur diesem Versäumnis nicht entgegentreten, ist natürlich ein Teil
der Wahrheit. Es scheint keine Ansätze zu geben, der Zivilisationskritik der
Jugendbewegung und der Lebensreform zu begegnen. Vielmehr scheint sich der
gegenwärtige Naturismus in der Wellness-und Event-Kultur einzurichten. Wenn zu
Beginn des 20. Jahrhunderts das Nacktsein als Protesthaltung gegen
gesellschaftliche Konventionen und Betonung der Naturverbundenheit verstanden
werden konnte, so stellt sich natürlich die Frage, wieso sich heute in der
bürgerlichen Bequemlichkeit eingerichtet wird.
Das „ZEIT Magazin: Anders leben – Jugendbewegung
und Lebensreform in Deutschland um 1900“ bringt noch weitere Themen zur
Sprache, die sicher nicht an Aktualität verloren haben. Elisabeth
Meyer-Renschhausen titelt ihren Aufsatz „Raus aus dem Korsett – Wie die
Lebensreform den Alltag der Frauen revolutionierte“. Judith Baumgartner
schreibt in ihrem Beitrag „Besser essen, besser sein“ über die „frühen
Vegetarier“, die sie nicht als weltflüchtige Rohkostler, sondern Pioniere der
Ökobewegung sieht. In dem Aufsatz „Quietschen, Hupen, Fauchen“ dokumentiert
Volker Ullrich den Kampf des Kulturphilosophen Theodor Lessing gegen den
Großstadtlärm. „Aus grauer Städte Mauern“ heißt es, wenn Ulrich Grober über die
Wandervögel schreibt, die von einem einfachen Leben jenseits bürgerlicher
Konventionen träumten.
Dem „ZEIT Magazin: Anders leben –
Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900“ wünscht man ein
Nachfolgeheft, in dem die Bedeutung der Lebensreform für die Gegenwart und
Zukunft bedacht wird. Die Gedanken der Jugendbewegung und der Lebensreform
hätten es verdient, dem Jetzt angepasst zu werden. Vergangenheit ist nicht
alles.
Christoph Müller
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