Sonntag, 25. August 2013

„Wilder denken, freier lieben, grüner wohnen“


Nicht an Aktualität verloren

Magazin „ZEIT Geschichte“ beschäftigt sich mit „Jugendbewegung und Lebensreform um 1900“
„Anders leben“ lautet das eine Motto. „Wilder denken, freier lieben, grüner wohnen“ liest sich das andere Motto. Ja, die Redaktion des Magazins „ZEIT Geschichte“ hat anlässlich des 100.Jahrestages des Festes auf dem Hohen Meißner die Gelegenheit genutzt, sich mit der „Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900“ zu beschäftigen. Es wäre vermessen zu behaupten, das Ergebnis könne sich sehen lassen. Dafür bleiben die Texte und Interviews an vielen Stellen zu sehr an der Oberfläche. Oder anders gesagt, das Bemühen, die Ideen der Jugendbewegung und Lebensreform vom Auftakt des 20. Jahrhunderts in den ersten Teil des 21. Jahrhunderts zu übersetzen, scheitert.

Nichtsdestotrotz ist der Blick in die Vergangenheit nicht sinnlos. Jürgen Overhoff, Historiker an den Universitäten Hamburg und Münster, schreibt in dem trotz allem abwechslungsreichen Magazin über die Freikörperkultur. FKK sei der radikalste Ausdruck lebensreformerischer Zivilisationskritik im Kaiserreich gewesen, stellt Overhoff in seinem Beitrag „Im Lichtkleid zum Lebensglück“ mit. Mit dem Blick auf die Gegenwart stellt Overhoff fest: „Heute, in einer Zeit, in der sich sieben Millionen Deutsche im Sommerurlaub nackt sonnen und in der Nacktrodelevents den launigen Höhepunkt einer jeden Wintersportsaison darstellen, mutet es fast schon unwirklich und kaum glaublich an, dass die Nacktkultur hierzulande einst ein mit reformatorischem Eifer betriebenes Geschäft zur Erlösung der Welt gewesen ist, ein sehr ernstes dazu. Es ist aber die nackte Wahrheit.“ (54)

Dass die Verbände und Vereine in der Freikörperkultur diesem Versäumnis nicht entgegentreten, ist natürlich ein Teil der Wahrheit. Es scheint keine Ansätze zu geben, der Zivilisationskritik der Jugendbewegung und der Lebensreform zu begegnen. Vielmehr scheint sich der gegenwärtige Naturismus in der Wellness-und Event-Kultur einzurichten. Wenn zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Nacktsein als Protesthaltung gegen gesellschaftliche Konventionen und Betonung der Naturverbundenheit verstanden werden konnte, so stellt sich natürlich die Frage, wieso sich heute in der bürgerlichen Bequemlichkeit eingerichtet wird.
Das „ZEIT Magazin: Anders leben – Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900“ bringt noch weitere Themen zur Sprache, die sicher nicht an Aktualität verloren haben. Elisabeth Meyer-Renschhausen titelt ihren Aufsatz „Raus aus dem Korsett – Wie die Lebensreform den Alltag der Frauen revolutionierte“. Judith Baumgartner schreibt in ihrem Beitrag „Besser essen, besser sein“ über die „frühen Vegetarier“, die sie nicht als weltflüchtige Rohkostler, sondern Pioniere der Ökobewegung sieht. In dem Aufsatz „Quietschen, Hupen, Fauchen“ dokumentiert Volker Ullrich den Kampf des Kulturphilosophen Theodor Lessing gegen den Großstadtlärm. „Aus grauer Städte Mauern“ heißt es, wenn Ulrich Grober über die Wandervögel schreibt, die von einem einfachen Leben jenseits bürgerlicher Konventionen träumten.

Dem „ZEIT Magazin: Anders leben – Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900“ wünscht man ein Nachfolgeheft, in dem die Bedeutung der Lebensreform für die Gegenwart und Zukunft bedacht wird. Die Gedanken der Jugendbewegung und der Lebensreform hätten es verdient, dem Jetzt angepasst zu werden. Vergangenheit ist nicht alles.


Christoph Müller

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen